Anmerkungen zum ideologischen Antisemitismus-Diskurs in Deutschland
Der Antisemitismus-Diskurs in Deutschland der letzten Jahrzehnte war stets von Befindlichkeiten bestimmt, die sich aus dem Bewusstsein, einem Tätervolk anzugehören, generiert haben. Was indes anfangs noch eine genuine »Gesinnungs-Lehre« aus der verbrecherischen Vergangenheit der Nazizeit zu entfalten schien, verselbständigte sich zunehmend und verdinglichte sich zum ideologischen Instrument des Kampfes gegen politische Gegner, allen voran Kritiker der israelischen Besatzungspolitik, die mittlerweile allesamt als »Antisemiten« gelten, weil »Israel« und »Juden« gleichgesetzt werden. Die Verbissenheit, mit der nun Deutsche (auch jüdische) Israelkritiker verfolgen zu sollen meinen, die von ihnen eingesetzten Mittel der infamen Verleumdung, perfiden Schmähung und operativen Ausgrenzung aus dem deutschen Diskurs – das alles deutet darauf hin, dass es längst nicht mehr um Juden, nicht einmal um Israel, schon gar nicht ums Gedenken des Holocaust geht, sondern um eine ausgewachsene Politneurose, um einen pathologisch durchlebten ideologischen Wahn, der – zumal angesichts der Gesinnungswende, die mit dieser Praxis einhergeht – die Vermutung aufkommen lässt, Hitlers verlängerter Arm ist am Werk. Die AfD und die nur vermeintlich ihr entgegenstehende Bewegung der »Antideutschen« und sonstigen falschen Israelsolidarisierer können sich die Hände reichen.
Das ist von weitreichender Bedeutung für das, was man als Anforderung der Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit, spätestens seit Adorno, angesehen hat. Man kann nachgerade behaupten, dass mit der gegenwärtigen Israelsolidaritäts-Praxis und der ihr verschwisterten Antisemitismus-Hysterie die Postulate Adornos systematisch hintertrieben werden. In der deutschen Vergangenheitsbewältigung ist eine gewaltige Regression im Gange. Dies ist umso bedenklicher, als es mittlerweile nicht mehr nur um Kontrollverluste und Tobsuchtsanfälle in den sozialen Medien geht, sondern um staatsoffizielle Politik und deren Manifestationen in verschiedenen Instanzen der politischen Klasse und deren Kultursphäre. Es handelt sich also um eine konstellative Verbandelung der offiziellen deutschen Politik, der hegemonialen Medienwelt und der »antideutschen« Ideologie – letztlich um eine übergreifende Kontaminierung und Verschandelung des Andenkens der historischen Opfer des größten Menschheitsverbrechens.
Moshe Zuckermann
ist emeritierter Professor an der Universität Tel Aviv. Er lehrte dort Geschichte, Philosophie und Soziologie der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften. Zu den Schwerpunkten seiner Forschungs- und Publikationstätigkeit gehören die Kritische Theorie und der Einfluss der Shoah auf die politischen Kulturen Israels und Deutschlands. Seine jüngsten Buchveröffentlichungen: »›Antisemit!‹ Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument«, Wien 2010; »Israels Schicksal. Wie der Zionismus seinen Untergang betreibt«, Wien 2014; »Freud und das Politische. Psychoanalyse, Emanzipation und Israel«, Wien 2016.