Diffamierende Antisemitismusvorwürfe, deutsche Interessen und ihre »antideutschen« Vertreter

Seit die verheerenden Folgen der Kriege, die Israel gegen die palästinensische Bevölkerung im Gaza-Streifen geführt hat, vor allem seit dem letzten Angriff 2014, auch hierzulande bekannter werden, wächst die Kritik an der Politik der Netanjahu-Regierung − zunehmend auch an der völkerrechtswidrigen Besatzung großer Teile des Westjordanlandes und der Landnahme durch die reaktionär ausgerichtete Siedlerbewegung. Mehr und mehr Menschen aus gewerkschaftlichen, kirchlichen und anderen Organisationen zeigen ihre Fassungslosigkeit über die israelische Blockade von Gaza, den rapide voranschreitenden Ausbau der Siedlungen, die gezielten Tötungen, die als Willkür wahrgenommenen Maßnahmen der Militärjustiz, die Zerstörung von Schulen, Brunnen und Solaranlagen, die zuvor mit Hilfe auch von deutschen und europäischen Geldern gebaut wurden.

Diese Kritik an der israelischen Politik darf aber nach Ansicht der Bundesregierung nicht sein, weil damit auch deutsche Interessen in Frage gestellt werden. Bereits  drei Jahre vor dem Auftritt von Kanzlerin Angela Merkel in der Knesset 2008 hatte Rudolf Dreßler (SPD), von 2000 bis 2005 deutscher Botschafter in Israel, in einem Aufsatz erklärt: »Die gesicherte Existenz Israels liegt im nationalen Interesse Deutschlands, ist somit Teil unserer Staatsräson.«

Worin bestehen diese »nationalen Interessen«? Zunächst in engen wirtschaftlichen Beziehungen, besonders im Bereich der Sicherheitssysteme, der Überwachungstechnik und der Rüstungsindustrie (die Lieferung von U-Booten ist für deutsche Unternehmen ein Milliardengeschäft). Des Weiteren in militärischer Zusammenarbeit: Bundeswehrsoldaten werden in Israel im Umgang mit Drohnen geschult und im Nah- und Häuserkampf ausgebildet. Vor allem ist Israel – nicht nur für die deutsche Regierung – von geostrategischer Bedeutung, weil es als einzige Atommacht der Region dazu beiträgt, den gesamten Nahen Osten, vorrangig den Iran, im gemeinsamen Interesse mit dem US-amerikanischen und europäischen Imperialismus zu kontrollieren.

Die deutsche »Staatsräson« und die hinter dieser Begrifflichkeit verborgenen Interessen geraten jedoch aufgrund der zunehmend aggressiven Politik Israels nach innen und nach außen in Gefahr (kritische israelische Stimmen sprechen bereits von einer beginnenden Faschisierung der Gesellschaft) – die Widersprüche reichen bis in die herrschende Klasse, sind Anlass dafür, dass Vertreter von Parteien, Oberbürgermeister, Stadtparlamente, aber auch Kirchenfunktionäre immer massiver gegen israelkritische Initiativen und Einzelpersonen vorgehen. Zurecht wird befürchtet, dass die Bevölkerung künftig die geforderte bedingungslose Israelunterstützung nicht mehr mitträgt – entsprechend wird versucht, jegliche Opposition gegen das Vorgehen israelischer Regierungen zu unterdrücken, gegebenenfalls um den Preis, Grundrechte außer Kraft zu setzen.

Seit jeher bedienen sich Politiker geeigneter Ideologien, um ihre Ziele durchzusetzen und ihre wahren Interessen zu verschleiern. In diesem konkreten Fall soll mit der Kollektivschuldideologie jeder Deutsche darauf verpflichtet werden, Israel bedingungslos zu unterstützen. Dabei wird die deutsche Sicherheitsgarantie als eine Art »Wiedergutmachung« des Holocausts verbrämt, jede Kritik am Zionismus als »antisemitisch« kriminalisiert.

Durchsetzer dieser absurden ideologischen Gleichungen und der Instrumentalisierung des Völkermords an den Juden sind die »Antideutschen«. Bemüht, ihr Überlaufen auf die Seite der Herrschenden zu kaschieren, ist Ihnen dabei jedes Mittel recht: sie denunzieren, diffamieren, drohen die Existenz Andersdenkender zu vernichten und machen auch vor jüdischen Israelkritikern nicht Halt. Im Gegenteil: Gerade weil diese oft aus eigener Erfahrung sprechen, erscheinen sie den »antideutschen« Ideologen als besondere Bedrohung für die Forderung regierungskonformer »Solidarität« mit Israel.

Wir sollten uns dadurch weder beirren noch das kritische Hinterfragen der Vorgänge verbieten lassen. Wir sollten weiterhin Klartext reden, wie es schon in den 1960er-Jahren Erich Fried mit seinem »Höre, Israel!« getan hat und wie es heute Uri Avnery in seinen auch auf Deutsch erscheinenden Kommentaren zur israelischen Tagespolitik und Moshe Zuckermann in seinem Buch »Sechzig Jahre Israel« und weiteren Veröffentlichungen tun − Klartext an der Seite der israelischen Friedensbewegung und der israelischen Kriegsverweigerer. Klartext wie die Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost, die Jewish Antifa Berlin und die Jüdisch−Palästinensische Dialoggruppe München − Menschen jüdischer Herkunft, die wegen ihrer Positionierung auch hierzulande verstärkt unter Repressionen zu leiden haben.

Unsere Kritik ist Kritik bestehender Klassenverhältnisse und Kritik imperialistischer Politik. Sie orientiert sich, bezogen auf Israel und Palästina, an den Beschlüssen der Vereinten Nationen, die, würden sie umgesetzt, die Existenz Israels wirksamer und dauerhafter sichern würden als Siedlungsbau und Waffengänge.

Rolf Becker
ist Schauspieler und Synchronsprecher, gewerkschaftlich organisiert im ver.di-Fachbereich Medien, Kunst und Industrie. Er war mehrere Jahre Mitglied im Ensemble des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg und wurde durch Spielfilme, wie »Ich bin ein Elefant, Madame«, »Die verlorene Ehre der Katharina Blum«, die ARD-Kriminalreihe »Tatort« und andere TV-Produktionen bekannt. Seit vielen Jahren hält er Lesungen von Brecht, Heine, des Kommunistischen Manifests und kämpft als aktiver Antifaschist und Mitglied des Auschwitz-Komitees gegen das Vergessen. 2016 hat er an dem Projekt »›Losgelöst von allen Wurzeln …‹ Eine Wanderung zwischen den jüdischen Welten« mit Esther Bejarano und Moshe Zuckermann mitgewirkt.